Tagungskonzept

Under construction – Religion als Praxis und Prozess

Unter diesem Titel laden wir Sie dazu ein, Themen und Gegenstände religionswissenschaftlicher Forschung aus einer prozessorientierten Perspektive zu betrachten. Wir wollen dazu anregen, Dynamiken und Praktiken in den Blick zu nehmen, in denen und durch die sich Religion ständig konstituiert, sie geschaffen, geformt oder verworfen wird. Im Zentrum stehen dabei nicht die Konstrukte selbst, sondern in erster Linie die (Arbeits)Prozesse und die daran beteiligten Akteure, agencies, die Materialitäten und Kräfte, die fortwährend das herstellen – oder herstellen wollen – was in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten als Religion gilt oder gelten soll. Es ist der Versuch, die Dynamik der Entstehung von Neuem und die stete Veränderung zu entdecken, die auch dann unsere „Gegenstände“ ausmacht, wenn von Tradition, Ordnung, Es­senz, Gewissheit oder Kontinuität die Rede ist: Lenkt man die Aufmerksamkeit auf Prozesse und Praktiken, dann wird sichtbar, dass Stabilität kein natürlicher Grundzustand ist, sondern Ergebnis ständiger Arbeit. Zugleich gibt diese Perspektive Anlass, sich mit Praxiseffekten, Emergenzen und Unvorhergesehenem zu befassen, ebenso wie mit Bezügen und Bezugnah­men, Voraussetzungen und materialen Affordanzen, die diese Praktiken leiten oder nahelegen. „Religion“ als under construction zu verstehen, geht also nicht von ihrer sinnhaften Gegebenheit, Essenz und planmäßigen Entwicklung aus, sondern von ihrer fortwährenden Produktion und Transformation. Das Bild von Religion als im Bau befindlich oder als Baustelle verweist darüber hinaus auf die Materialität dessen, was als „Religion“ entsteht und auf die körperliche Verankerung ihrer Produktion.

Inspiriert ist diese Perspektive durch unterschiedliche sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeiten, wie beispielsweise den poststrukturalistischen Fokus auf diskursive Prozesse, verschiedene Ansätze, die Praxis und Praktiken, Akteure/Agenturen, Materialität und/oder Relationalität hervorheben, ebenso wie post- und dekoloniale Debatten, deren Infragestellung epistemologi­scher He­gemonien und machtvoller Master-Kategorien auch die Fundamente der Religions­wissenschaft berühren. Ohne uns einen geschlossenen Theorierahmen vorzugeben, zeigen diese Inspirations­quellen Möglichkei­ten auf, wie wir Dynamiken, Prozesse und Praktiken untersuchen und Diskurse, Körper und Objekte als Aspekte oder Bestandteile von Praxis verstehen können. Sie fordern uns zugleich dazu auf, das eigene Tun kritisch zu reflektieren. 

Das Tagungskonzept schließt somit an die Leipziger Tagung 2021 und ihren nicht-essentialistischen Blick auf Religion in Relation an und verbindet diesen mit den Bayreuther Schwerpunk­ten auf Praktiken, Relationalität und post-/dekoloniale Zugänge.

Um diese Perspektive greifbarer zu machen, schlagen wir drei sich überlappende Blickwinkel vor: Struktur und Plastizität, Kontinuitäten und Brüche, Innen und Außen. Die Blickwinkel betonen unterschiedliche Phasen und Möglichkeiten von „Religion“ in kontinuierlichen Prozessen der Veränderung und regen an, religionswissenschaftliche Arbeit in ihren Verflechtungen mit den Gegenständen zu sehen. Die verwendeten Begriffe markieren dabei kein Entweder/Oder, sondern Spielräume.


Struktur und Plastizität 

Religion gilt als individuelle und soziale Ordnungsmacht. Die Religionsgeschichte weist in diesem Zusammenhang zahlreiche Beispiele auf, wie strukturierte Baupläne entworfen und verworfen werden. Die Heterogenität der Vorhaben führt zu Koexistenz und Dialog, aber auch zu Spannungen und Konflikten. Gleichzeitig sind Bauprojekte nicht einfach als Umsetzung eines intendierten Plans, sondern als komplexe Prozesse von Produktion, Aushandlung und Anpas­sung zu verstehen, aus denen wiederum neue Praxisformationen hervorgehen. Diese kontinu­ierliche Dynamik ist bei allen Ansprüchen auf (ewige) Ordnung und Kohärenz auch geprägt von Improvisation, Zufall und Plastizität. Es entstehen multiple Netze sich stetig wandelnder Relationen von Akteuren und Materialitäten, in die auch Religion eingewoben wird bzw. aus denen sie sich überhaupt erst konstituiert.

Religion aus diesem Blickwinkel zu betrachten, meint also Prozesse der Gestaltung und Herstellung von Ordnung, die materiellen wie ideellen Vorfindlichkeiten ebenso zu fokussieren wie unerwartete Emergenzen, Improvisationen und die Veränderung oder Auflösung von Ordnungen. Angesprochen sind hier Imagination und Kreativität, aber auch Infrastrukturen, Ordnungsmuster und Machtverhältnisse, die religiöse Praxis gestalten oder von ihr geformt werden, die aber auch unvorhergesehene Folgen provozieren.

Kontinuitäten und Brüche

Dieser Blickwinkel betont die zeitlichen Bezüge, die in Prozessen der Konstitution, Formung, Transformation oder Zurückweisung von Religion und religiösen Traditionen eine Rolle spielen. Zeitlichkeit kann dabei auf (angenommene) Beständigkeit, Gleichzeitigkeit und Wiederholung verweisen, aber auch auf Neubeginn, Reform oder Umsturz. Häufig werden in religiöser Praxis allerdings auch sich widersprechende Bezüge auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemacht.

In religiösen Traditionen sind unterschiedliche zeitliche Bezüge miteinander verflochten. Neben geräuschlosen Transformationsprozessen wird nicht selten die Deutung einer entworfenen Vergangenheit und ihr Stellenwert für Gegenwart und Zukunft zum Konfliktfeld. Praktiken auf einer Baustelle lassen sich unter anderem klassifizieren als Reparaturen oder Versuche der Rekonstruktion, als Sanierung, Modernisierung, Umbau oder Neubau – wechselnde Geschmä­cker und Lebensstile können hierfür genauso Anlass sein wie Schäden durch Umweltereignisse, Probleme der Statik oder alterndes Material. Kontinuitäten und Brüche werden dabei auf ver­schiedene Weise erzeugt, vermittelt und gedeutet. Dabei entsteht immer wieder die Frage, ob die Vergangenheit geeignete Vorbilder und Modelle liefert oder ob die Vision mit Dagewese­nem oder Vorgefundenem brechen soll. Derartige Fragen werden jedoch nicht nur von den Bauherr:innen beantwortet: Verfügungsgewalt und Deutungshoheit werden häufig auch in Nachbarschaft und Öffentlichkeit ausgehan­delt.

Innen und Außen

Hier stehen soziale wie räumliche Verortungen und die damit einhergehenden Möglichkeiten und Beschränkungen, die Religion als Praxis und Prozess ausmachen, im Mittelpunkt. Selbst- und Fremdbilder, das Verhältnis von Zugehörigkeit und Ausschluss prägen ebenso wie Laien- und Expertenperspektiven religiöse Traditionen und Praktiken. Die Baustelle steht für die fortwährende Aushandlung dieser unterschiedlichen Positionen und Rollen und ist für die beteiligten privaten und beruflichen Akteure verschiedenen räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglich­keiten und -beschränkungen unterworfen. Der Innenausbau folgt anderen strukturellen Gege­benheiten als der Außenbereich, der als sichtbarer Übergangsbereich zwischen dem Privaten und Öffentlichen fungiert. Verortungen verweisen auf komplexe Verhältnisse von Macht und Ungleichheit, die in der Arbeitsteilung gespiegelt, (re-)produziert oder in Frage gestellt werden. Prozesse der In- und Exklusion verlaufen dabei nicht allein entlang der Kategorie Religion, sondern auch in der Überschneidung mit Kategorien wie Wissen, Geschlecht, Herkunft oder Klasse. Nicht zuletzt betreffen sie auch die Position und Arbeit von Religionswissenschaftler:innen: so lässt sich die Disziplin als unbeteiligte Beobachterin, dekonstruierende Abrissbirne, Baugutachterin oder direkt am Bauvorhaben Beteiligte verstehen.


Die drei Blickwinkel geben keinen geschlossenen Theorierahmen vor. Vielmehr sollen sie dazu motivieren, empirische und historische Forschung zu Akteuren, Institutionen, Texten, Objekten, unterschiedlichen Handlungsfeldern, Diskursen oder Ideologien auf die Möglichkeiten und Grenzen einer prozessualen, praxisorientierten Perspektive hin zu prüfen.

Alle drei Blickwinkel fordern dazu auf, Machtpraktiken und Prozesse der Herstellung oder Perpetuierung von Ungleichheit zu beachten. In diesem Sinne schließen sie immer die Frage nach Position und Handlungsmacht von Religionswissenschaftler:innen und ihrer Disziplin ein. Zu ergründen sind daher die Dynamiken religionswissenschaftlicher Wissensproduktion und unsere Beteiligung an den Prozessen, die herstellen, was als Religion gilt oder gelten soll. Dies geht nicht, ohne auch die Ausprägungen von Ungleichheit und Kolonialität kritisch zu reflektieren, die religionswissenschaftliche Forschung, Theoriebildung, Lehre und Publikationspolitiken beeinflussen.

Wir freuen uns auf Beiträge mit verschiedenen räumlichen und zeitlichen Schwerpunkten ebenso wie auf solche, die unterschiedliche methodische Zugänge und Positionierungen der Religionswissenschaft testen.

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