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Under Construction - Religion als Praxis und Prozess

Unter diesem Titel laden wir Sie dazu ein, Themen und Gegenstände religionswissenschaftlicher Forschung aus einer prozessorientierten Perspektive zu betrachten. Wir wollen dazu anregen, Dynamiken und Praktiken in den Blick zu nehmen, in denen und durch die sich Religion ständig konstituiert, sie geschaffen, geformt oder verworfen wird. Im Zentrum stehen dabei nicht die Konstrukte selbst, sondern in erster Linie die (Arbeits-)Prozesse und die daran beteiligten Akteure, agencies, die Materialitäten und Kräfte, die fortwährend das herstellen – oder herstellen wollen – was in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten als Religion gilt oder gelten soll. Es ist der Versuch, die Dynamik der Entstehung von Neuem und die stete Veränderung zu entdecken, die auch dann unsere „Gegenstände“ ausmacht, wenn von Tradition, Ordnung, Essenz, Gewissheit oder Kontinuität die Rede ist: Lenkt man die Aufmerksamkeit auf Prozesse und Praktiken, dann wird sichtbar, dass Stabilität kein natürlicher Grundzustand ist, sondern Ergebnis ständiger Arbeit. Zugleich gibt diese Perspektive Anlass, sich mit Praxiseffekten, Emergenzen und Unvorhergesehenem zu befassen, ebenso wie mit Bezügen und Bezugnahmen, Voraussetzungen und materialen Affordanzen, die diese Praktiken leiten oder nahelegen. „Religion“ als under construction zu verstehen, geht also nicht von ihrer sinnhaften Gegebenheit, Essenz und planmäßigen Entwicklung aus, sondern von ihrer fortwährenden Produktion und Transformation. Das Bild von Religion als im Bau befindlich oder als Baustelle verweist darüber hinaus auf die Materialität dessen, was als „Religion“ entsteht und auf die körperliche Verankerung ihrer Produktion.

Um diese Perspektive greifbarer zu machen, schlagen wir drei sich überlappende Blickwinkel vor: Struktur und Plastizität, Kontinuitäten und Brüche, Innen und Außen. Die Blickwinkel betonen unterschiedliche Phasen und Möglichkeiten von „Religion“ in kontinuierlichen Prozessen der Veränderung und fordern uns zugleich dazu auf, die religionswissenschaftliche Arbeit kritisch zu reflektieren. Die verwendeten Begriffe markieren dabei kein Entweder/Oder sondern Spielräume.

Struktur und Plastizität

Religion aus diesem Blickwinkel zu betrachten, meint Prozesse der Gestaltung und Herstellung von Ordnung, die materiellen wie ideellen Vorfindlichkeiten ebenso zu fokussieren wie unerwartete Emergenzen, Improvisationen und die Veränderung oder Auflösung von Ordnungen. Angesprochen sind hier Imagination und Kreativität, aber auch Infrastrukturen, Ordnungsmuster und Machtverhältnisse, die religiöse Praxis gestalten oder von ihr geformt werden, die aber auch unvorhergesehene Folgen provozieren.

Kontinuitäten und Brüche

Dieser Blickwinkel betont die zeitlichen Bezüge, die in Prozessen der Konstitution, Formung, Transformation oder Zurückweisung von Religion und religiösen Traditionen eine Rolle spielen. Zeitlichkeit kann dabei auf (angenommene) Beständigkeit, Gleichzeitigkeit und Wiederholung verweisen, aber auch auf Neubeginn, Reform oder Umsturz. Nicht nur in pluralen Kontexten kann religiöse Praxis allerdings auch sich widersprechende Bezüge auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufweisen.

Innen und Außen

Im Mittelpunkt stehen hier soziale wie räumliche Verortungen und die damit einhergehenden Möglichkeiten und Beschränkungen, die Religion als Praxis und Prozess ausmachen. Selbst- und Fremdbilder, Zugehörigkeiten und Ausschlüsse, Laien- und Expertenperspektiven verweisen auf komplexe Verhältnisse von Macht und Ungleichheit, die nicht nur entlang von „Religion“, sondern auch in der Überschneidung mit Kategorien wie Wissen, Geschlecht, Herkunft oder Klasse entstehen.

Die drei Blickwinkel geben keinen geschlossenen Theorierahmen vor. Vielmehr sollen sie dazu motivieren, empirische und historische Forschung zu Akteuren, Institutionen, Texten, Objek-ten, unterschiedlichen Handlungsfeldern, Diskursen oder Ideologien auf die Möglichkeiten und Grenzen einer prozessualen, praxisorientierten Perspektive hin zu prüfen.

Alle drei Blickwinkel fordern dazu auf, Machtpraktiken und Prozesse der Herstellung oder Perpetuierung von Ungleichheit zu beachten. In diesem Sinne schließen sie immer die Frage nach Position und Handlungsmacht von Religionswissenschaftler:innen und ihrer Disziplin ein. Zu ergründen sind daher die Dynamiken religionswissenschaftlicher Wissensproduktion und unsere Beteiligung an den Prozessen, die herstellen, was als Religion gilt oder gelten soll. Dies geht nicht, ohne auch die Ausprägungen von Ungleichheit und Kolonialität kritisch zu reflektieren, die religionswissenschaftliche Forschung, Theoriebildung, Lehre und Publika-tionspolitiken beeinflussen.

Wir freuen uns auf Beiträge mit verschiedenen räumlichen und zeitlichen Schwerpunkten, ebenso wie solche, die unterschiedliche methodische Zugänge und Positionierungen der Religionswissenschaft testen.

 

 

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