"Wissenschaftliche Grundlagen für eine Bewertung gesundheitlicher Risiken - Infraschall aus technischen Anlagen" lautet der Titel des neuen Artikels von Prof. Werner Roos und Prof. Christian Vahl, der am 1.7.2021 in der Zeitschrift ASU (Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin) veröffentlicht wurde.
Die Zahl der Fehler im Artikel ist erschreckend. Viele Falschbehauptungen sind längst widerlegt. Mit mangelnder wissenschaftlicher Sorgfalt lässt sich dies kaum erklären. Ein Faktencheck:
Beide Autoren sind keine aktiven Hochschullehrer mehr. Im Artikel geben sie ihre letzten Wirkungsstätten als Referenz an. Es ist durchaus üblich, dass Professoren nach Ausscheiden aus dem aktiven Dienst weiter Forschung an ihrer Universität machen. Beim Blick auf die Webseiten ihrer ehemaligen Institute findet man die Autoren jedoch nicht. Auf Anfrage bei der Universität Halle-Wittenberg wurde von der Institutsleitung mitgeteilt, dass Professor Roos seit mehreren Jahren emeritiert und seit dieser Zeit nicht mehr am Institut für Pharmazie in Halle tätig ist. Von der Universität Mainz habe ich keine Antwort auf meine Anfrage zum Status von Prof. Vahl erhalten.
Der Artikel reiht sich ein in eine Reihe von fragwürdigen Beiträgen von Medizinern oder Biologen, die alle eklatante physikalische Falschaussagen beinhalten (vgl. ZDF planet e: Infraschall - Unerhörter Lärm, Ärzteblatt: Infraschall und Windenergie, Ärzte für Immissionsschutz (AEFIS) ... ). Im Artikel von Roos und Vahl ist die erste bereits in der Abbildung 1:
In der Bildunterschrift erkären die Autoren:
Rote Linie: Im Haus ist der Gesamtschalldruck deutlich niedriger, Frequenz und Amplitude der genannten Infraschallpeaks bleiben jedoch unverändert.
Das ist völlig falsch. Der y-Wert des Frequenzspektrums ist das Maß für die Amplitude. Diese liegt im Haus ganz eindeutig unter den Pegeln im Freien. Die Dämpfung beträgt je nach Frequenz bis zu 17dB, was einer Reduktion der Schallleistung um Faktor 50 entspricht. Infraschall wird selbstverständlich durch eine geschlossene Gebäudehülle abgeschwächt. Das belegen auch meine eigenen Messungen (vgl. Infraschall im Gebäude - 350m vom Windrad).
Herr Roos nutzt diese Grafik immer. Es ist kaum vorstellbar, dass er noch nie auf diese Fehlinterpretation hingewiesen wurde. Man muss somit davon ausgehen, dass die Autoren diese Falschbehauptung bewusst nutzen, um Ängste vor "alles durchdringendem Infraschall" zu schüren.
Der Artikel wurde im Dezember 2020 eingereicht. Zu diesem Zeitpunkt waren die falschen Pegel der BGR noch nicht korrigiert. Entsprechend behaupten die Autoren
Erhebliche Intensitäten des von Windanlagen ausgehenden Infraschalls wurden noch in mehreren Kilometern Entfernung gemessen (u. a. Palmer 2017; Pilger u. Ceranna; 2017).
Die "erheblichen Intensitäten" von Pilger und Ceranna haben sich seit dem Eingeständnis des Rechenfehlers im April 2021 um einen Faktor 4000 verkleinert. In der Publikation von Palmer 2017 wird Infraschall überhaupt nicht diskutiert.
Der nächste Klassiker ist das Aufzählen von Effekten, die in Tierversuchen mit Infraschall festgestellt wurden. Dass fast alle Effekte erst bei extrem hohen Schalldruckpegeln (bis 130dB) beobachtet wurden und damit um bis zu Faktor 100.000.000 über den Schallpegeln an Windenergieanlagen liegen, wird nicht diskutiert. Das ist absurd. Kein Mediziner käme auf die Idee, vor Alkoholvergiftungen durch reifes Obst zu warnen, nur weil festgestellt wurde, dass hochprozentiger Alkohol gesundheitsschädlich ist.
Oft weisen die Versuche zusätzlich methodische Schächen auf (vgl. Diskussionsseite: Studie Prof. Vahl) oder sind längst widerlegt. So zitierten die Autoren eine Studie von Wysocki 1980:
Die Reduktion der Herzfrequenz wurde 1980 von Wysocki et al. bestätigt (z. B. bei 8 Hz, 75 dB und Einwirkzeiten bis zu 2 h).
Dazu ein Zitat vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen von 2002:
Schaut man sich die zitierte Arbeit jedoch im Original an, so ist erkennbar, dass die Untersuchung mit einem Geräusch durchgeführt wurde, dessen Infraschallanteile zwar unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Menschen lagen, das aber im Bereich der 31,5 Hz-Oktave, also oberhalb des Infraschallbereichs, einen Schalldruckpegel von etwa 70 dB aufwies. Dieser tieffrequente Geräuschanteil war somit deutlich hörbar.
Es hat mich drei Minuten Google-Suche gekostet, um diese Widerlegung zu finden. Man fragt sich, warum Vahl und Roos trotzdem diese 40 Jahre alte Arbeit als Beleg für die Wirkung von Infraschall anführen.
In der Wissenschaft gilt die Nocebo-These als wahrscheinlichste Erklärung für die von Anwohnern geäußerten Beschwerden. Die Autoren gehen auch auf die entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten ein. Roos und Vahl versuchen diese These anhand von Feldstudien an Tieren zu entkräften, die sie jedoch falsch interpretieren. In beiden Arbeiten geht es um erhöhte Stresshormonlevel bei Dachsen bzw. Feldmäusen im Umkreis von Windenergieanlagen. Solche Arbeiten eignen sich grundsätzlich nicht als Beleg für die Wirksamkeit von Infraschall, da alle anderen Effekte (hörbarer Schall, seismische Schwingungen, Veränderungen in der Umgebung, ...) gleichzeitig wirken.
Trotz der Vielzahl der angeführten Arbeiten können die Autoren keinen einzigen Beleg präsentieren, dass Infraschall unterhalb der Wahrnehmungsschwelle Reaktionen bei Menschen auslöst. Bereits im Nahbereich von Windenergieanlagen werden lediglich Schalldruckpegel von ca. 60dBz erreicht. Die Wahrnehmungsschwelle liegt in diesem Frequenzbereich bei 120dBz. Das ist ein Pegelunterschied von 1.000.000.
Ziemlich überzeugend ist in diesem Zusammenhang die Studie des Technical Research Centre of Finland (VTT): Infrasound Does Not Explain Symptoms Related to Wind Turbines. In einem Versuchsraum bekamen Personen Schallproben vorgespielt, die zuvor u.a. in einem Windpark aufgenommen wurden. Ein Doppelblind-Algorithmus blendete zufällig den Infraschallbereich aus oder spielte die unveränderte Probe. Die Probanden konnten nicht erkennen, ob in den Proben Infraschall enthalten war oder nicht.
Windenergieanlagen emittieren vergleichsweise schwachen Infraschall. Eine wesentlich bedeutendere Infraschallquelle ist der Wind (vgl. Infraschall-"Belastung" in Harsdorf und Infraschall in den Alpen). Auch in fahrenden PKWs werden um Größenordnungen höhere Pegel erreicht (vgl. Infraschall im Auto). Ebenso erzeugen Autobahnen oder Industrieanlagen Infraschall. Trotzdem schreiben Roos und Vahl in der Zusammenfassung des Artikels:
Die häufigsten Emittenten [für Infraschall] sind Windenergieanlagen, deren rascher Ausbau eine zunehmende Zahl von Anwohnern mit Druckimpulsen großer Reichweite konfrontiert.
Auch die oft benutzte Formulierung der "Druckimpulse" ist falsch. In der Regel wird man diese Druckpulse gar nicht im Drucksignal erkennen. Dazu sechs zufällige Ausschnitte eines Drucksignals: Drei ohne Windrad und drei mit Windrad (vgl. Stellungnahme von Vernunftkraft zu BGR Rechenfehler).
Die Grafiken 1, 3 und 5 sind mit Windrad in 800m Entfernung, in 2,4 und 6 nur Hintergrund (natürliches Windrauschen). Die Druckpulse, von denen die Autoren sprechen, sind meist nicht existent. Nur in vergleichsweise kurzen Abständen und bei sehr niedrigem Hintergrundrauschen können diese Druckpulse im Zeitsignal beobachtet werden. Aber auch diese Pulse sind so schwach, dass eine Wahrnehmung oder gar Schädigung völlig ausgeschlossen ist (vgl. Physik des Infraschalls eines Windrads).
Der Artikel von Roos und Vahl bringt keine neuen Erkenntnisse und beinhaltet die üblichen falschen Argumentationslinien der Windkraftgegner. Prof. Roos ist schon länger bei "Gegenwind Schwarzwald" aktiv und hat mehrere Artikel bei Vernunftkraft veröffentlicht (vgl. Stellungnahme von Vernunftkraft zu BGR Rechenfehler).
Prof. Vahl hatte bisher versucht, einen wissenschaftlichen Anstrich zu wahren. Doch seit der Korrektur der Schalldruckpegel durch die BGR hat Prof. Vahl ein Problem. Er hatte die Wahl seiner Schallpegel immer mit den viel zu hohen Schalldruckpegel der BGR begründet. Vahl hat in seinen (zwar zweifelhaften) Versuchen gezeigt, dass Infraschall erst ab etwa 110dBz Effekte zeigt und damit indirekt, dass der viel schwächere Infraschall von Windenergieanlagen völlig harmlos ist. Doch statt seine Aussage zu korrigieren, verbreitet er eine neue, völlig unbelegte These (Kommentar Ärzteblatt und WELT-Artikel):
Nach der Korrektur dieser Werte ist davon auszugehen, dass der von Windanlagen generierte Infraschall gefährlicher ist als bisher angenommen, da die Beschwerden der Patienten somit bereits bei 70 dB auftreten.
Als Wissenschaftler sollte Vahl wissen, dass man aus einer Korrelation nie eine Kausaltiät ableiten kann (Windkraftanlagen - Anwohnerbeschwerden). Überhaupt ist diese Korrelation bei weitem nicht so stark, wie von Windkraftgegnern dargestellt. In einer Studie von Chapman et al. 2013 zeigte sich, dass bei 33 der 51 untersuchten Windparks gar keine Klagen bezüglich gesundheitlicher Probleme bekannt wurden. Insgesamt äußerten nur 0,4% der Anwohnern überhaupt gesundheitliche Probleme. Das ist weit unterhalb der Zahlen, die Vahl und Roos verbreiten. Bemerkenswerterweise lebten 73% der klagenden Menschen in der Nähe von nur sechs Windparks, bei denen Anti-Windenergie Gruppen aktiv waren. Weiterhin traten 90% dieser Klagen erst nach 2009 auf, nachdem die Anti-Windenergie Gruppen ihre Arbeit aufgenommen hatten.
Es ist erschreckend, wie viele Fehler (oder bewusste Falschaussagen) der Artikel von Roos und Vahl beinhaltet. Angesichts der Tatsache, dass die Angst vor harmlosem Infraschall echte Beschwerden auslösen kann, ist es schwer nachvollziehbar, wie sich dieser Artikel mit dem hippokratischen Eid der Mediziner vereinbaren lässt.
Zum Artikel von Roos und Vahl hat ASU inzwischen drei Repliken veröffentlicht, die alle die Arbeit als hochgradig fehlerhaft einordnen:
08.08.2024 Artikel in VGBE Energy: Infraschall von Windenergieanlagen – Viel Lärm um nichts |